Der Kampf

Ein Mann fand einen Schmetterlingskokon und nahm ihn mit nach Hause, um den Schmetterling schlüpfen zu sehen. Eines Tages wurde eine kleine Öffnung sichtbar. Während mehrerer Stunden kämpfte der Schmetterling, doch es schien, als könne er seinen Körper nicht über einen bestimmten Punkt hinaus bringen. Da glaubte der Mann, dass etwas nicht richtig sei und nahm eine Schere, um den Rest des Kokons aufzuschneiden.

Der Schmetterling schlüpfte mit Leichtigkeit heraus: Ein großer aufgedunsener Körper, mit kleinen, schrumpeligen Flügeln. Der Mann dachte, dass sich die Flügel in ein paar Stunden zu ihrer natürlichen Schönheit entfalten würden, doch es geschah nicht.

Anstatt sich in ein Geschöpf zu verwandeln, das frei war zu fliegen, verbrachte der Schmetterling sein Leben damit, einen geschwollenen Körper und aufgedunsene Flügel mit sich herumzuschleppen.

Der enge Kokon und der Kampf, der nötig ist, um durch enge Öffnung hindurchzuschlüpfen, sind der Weg der Natur, Flüssigkeit vom Körper in die Flügel zu zwingen. Der „gnadenvolle“ Schnitt war in Wirklichkeit grausam. Manchmal ist ein Kampf genau das, was wir brauchen.

Der Sprung in der Schüssel

Es war einmal eine alte chinesische Frau, die zwei große Schüsseln hatte, die von den Enden einer Stange hingen, die sie über ihren Schultern trug. Eine der Schüsseln hatte einen Sprung, während die andere makellos war und stets eine volle Portion Wasser fasste. Am Ende der langen Wanderung vom Fluss zum Haus der alten Frau war die andere Schüssel jedoch immer nur noch halb voll. Zwei Jahre lang geschah dies täglich: die alte Frau brachte immer nur anderthalb Schüsseln Wasser mit nach Hause. Die makellose Schüssel war natürlich sehr stolz auf ihre Leistung, aber die arme Schüssel mit dem Sprung schämte sich wegen ihres Makels und war betrübt, dass sie nur die Hälfte dessen verrichten konnte, wofür sie gemacht worden war. Nach zwei Jahren, die ihr wie ein endloses Versagen vorkamen, sprach die Schüssel zu der alten Frau: „Ich schäme mich so wegen meines Sprungs, aus dem den ganzen Weg zu deinem Haus immer Wasser läuft.“ Die alte Frau lächelte. „Ist dir aufgefallen, dass auf deiner Seite des Weges Blumen blühen, aber auf der Seite der anderen Schüssel nicht?“ „Ich habe auf deiner Seite des Pfades Blumensamen gesät, weil ich mir deines Fehlers bewusst war. Nun gießt du sie jeden Tag, wenn wir nach Hause laufen. Zwei Jahre lang konnte ich diese wunderschönen Blumen pflücken und den Tisch damit schmücken. Wenn du nicht genauso wärst, wie du bist, würde diese Schönheit nicht existieren und unser Haus beehren.“ Jeder von uns hat seine ganz eigenen Macken und Fehler, aber es sind die Macken und Sprünge, die unser Leben so interessant und lohnenswert machen. Man sollte jede Person einfach so nehmen, wie sie ist und das Gute in ihr sehen. Quelle: unbekannt

Die drei Siebe

Aufgeregt kam jemand zu Sokrates gelaufen. „Höre, Sokrates, da muss ich dir erzählen, wie dein Freund …“. „Halt ein!“, unterbrach ihn der Weise. „Hast du das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe geschüttelt?“ „Drei Siebe?“, fragte der andere voll Verwunderung. „Ja, mein Freund, drei Siebe. Lass sehen, ob das, was du mir erzählen willst, durch die drei Siebe hindurchgeht. Das erste Sieb ist die Wahrheit. Hast du alles, was du mir erzählen willst, geprüft, ob es wahr ist?“ „Nein, ich hörte es erzählen, und …“. „So, so. Aber sicher hast du es mit dem zweiten Sieb geprüft, es ist das Sieb der Güte. Ist das, was du mir erzählen willst, wenn schon nicht als wahr erwiesen, wenigstens gut?“ Zögernd sagte der andere: „Nein, das nicht, im Gegenteil …“ Dann“, unterbrach in der Weise, „lass uns das dritte Sieb noch anwenden und lass uns fragen, ob es notwendig ist, mir das zu erzählen, was dich so erregt.“ „Notwendig, nun nicht gerade …“. „Also“, lächelte Sokrates, „wenn das, was du mir erzählen willst, weder wahr noch gut noch notwendig ist, so lass es begraben sein und belaste dich und mich nicht damit.“ Quelle: unbekannt aus „Inhalte auf dem Punkt gebracht“ von Detlev Blenk, Beltz Verlag, Weinheim

Der Tempel der tausend Spiegel

Es gab in Indien den Tempel der tausend Spiegel. Er lag hoch oben auf einem Berg und sein Anblick war gewaltig. Eines Tages kam ein Hund und erklomm den Berg. Er stieg die Stufen des Tempels hinauf und betrat den Tempel der tausend Spiegel. Als er in den Saal der tausend Spiegel kam, sah er tausend Hunde. Er bekam Angst, sträubte das Nackenfell, klemmte den Schwanz zwischen die Beine, knurrte furchtbar und fletschte die Zähne. Und tausend Hunde sträubten das Nackenfell, klemmten die Schwänze zwischen die Beine, knurrten furchtbar und fletschten die Zähne. Voller Panik rannte der Hund aus dem Tempel und glaubte von nun an, dass die ganze Welt aus knurrenden, gefährlichen und bedrohlichen Hunden bestehe. Einige Zeit später kam ein anderer Hund, der den Berg erklomm. Auch er stieg die Stufen hinauf und betrat den Tempel der tausend Spiegel. Als er in den Saal der tausend Spiegel kam, sah auch er tausend andere Hunde. Er aber freute sich. Er wedelte mit dem Schwanz, sprang fröhlich hin und her und forderte die Hunde zum Spielen auf. Dieser Hund verließ den Tempel mit der Überzeugung, dass die ganze Welt aus netten, freundlichen Hunden bestehe, die ihm wohlgesonnen sind. (aus Indien) Quelle: unbekannt

Der Hotdog-Stand

Es war einmal ein Hotdog-Stand-Besitzer, der ganz wunderbare Hotdogs machte. Er arbeitete in einem großen Park und der Duft seiner speziellen Hotdogs war schon von weitem spürbar. Die Leute kamen gern zu ihm, denn er machte nicht nur hervorragende Hotdogs sondern nahm sich auch Zeit, um mit ihnen zu plaudern. Er war freundlich und seine Kunden spürten, dass er sich über sie freute. Sein Geschäft lief prächtig. Eines Tages kam sein Sohn von der Wirtschaftsuniversität zurück und sie redeten miteinander. Sein Vater erzählte ihm, dass er sich mit dem Gedanken trage, seinen Stand zu erweitern oder eventuell einen zweiten zu eröffnen. Sein Sohn schaute ihn zweifelnd an und auf die Frage, was den los sei, fragte er seinen Vater, ob er denn nicht über die Wirtschaftslage Bescheid wüsste. Denn diese sehe gar nicht so rosig aus, im Gegenteil, nach neuesten Erkenntnissen geben die Leute immer weniger Geld aus und viele Unternehmen bangen um ihre Existenz. In Zeiten wie diesen sei die Erweiterung des Geschäftes gar nicht sinnvoll, meinte er, ja sogar gefährlich. Sein Vater nickte nachdenklich und beschloss, doch nicht zu erweitern. Im Gegenteil, er dachte sich, wenn die Leute sowieso weniger Geld zur Verfügung haben, müssten sie ja mehr arbeiten und könnten auch nicht mehr so oft zu ihm an den Hot-Dog-Stand kommen. Er beschloss seine Einkäufe zu reduzieren, keine Werbung mehr zu machen und keine Hotdogs mehr im Voraus herzurichten. Auf einmal duftete es im Park gar nicht mehr nach frischen Hotdogs und es kamen daraufhin auch weniger Menschen zu ihm. Und da seine gute Laune auch nicht mehr die war, wie früher, kamen immer weniger und er dachte sich, wie Recht sein Sohn doch hatte. Heute hat er seinen Stand zugesperrt und denkt darüber nach, warum denn die Leute kein Geld und keine Zeit mehr haben. Es hat ihm soviel Spass gemacht, als die „Zeiten“ noch besser waren.

Das Denkmal des Kritikers

Einem fortschrittlichen Geist, den häufige Kritik entmutigte, sagte der Meister: „Hör auf die Worte des Kritikers. Er verrät, was deine Freunde vor dir verbergen.“ Aber er sagte auch: „Lass dich nicht von dem, was der Kritiker sagt nieder drücken. Noch nie wurde zu Ehren eines Kritikers ein Denkmal errichtet, wohl aber für Kritisierte.“

Der Segen der Augenlider

Nachdem sich einer seiner Schüler eines ernsten Vergehens schuldig gemacht hatte, erwarteten alle, dass der Meister ihn exemplarisch bestrafen würde. Als ein voller Monat vorüber war, ohne dass er etwas getan hatte, machten sie dem Meister Vorwürfe: „Wir können nicht übersehen, was passiert ist. Schließlich hat uns Gott Augen gegeben.“ „Ja“, erwiderte der Meister, „und Augenlider.“

Aus dem systemischen Leben

„Man sollte sich nie in eine Hypothese verlieben, geschweige denn, sie heiraten, bestenfalls einmal mit ihr Essen gehen.“

– gehört von Rainer Schwing


 „Vorurteile sind ein Strauß, den man wenigstens von Zeit zu Zeit neu arrangierten sollte.“

– Unbekannt


„Wer nicht überzeugen kann, sollte wenigstens Verwirrung stiften.“

– Unbekannt


„Ich werde nicht die Lösung haben, aber wir werden uns annähern.“

– gehört von Ruth Heise

Es fällt kein Meister vom Himmel

Ein Zauberkünstler führte am Hofe des Sultans seine Kunst vor und begeisterte seine Zuschauer. Der Sultan selbst war außer sich vor Bewunderung: „Gott, stehe mir bei, welch Wunder, welch ein Genie.“ Sein Wesir gab zu bedenken: „Hoheit, kein Meister fällt vom Himmel. Die Kunst des Zauberns ist die Folge seines Fleißes und seiner Übungen.“ Der Sultan runzelte die Stirn. Der Widerspruch seines Wesirs hatte ihm die Freude an den Zauberkunststücken verdorben. „Du undankbarer Mensch. Wie kannst du behaupten, dass solche Fertigkeiten durch Übung kommen? Es ist, wie ich sage. Entweder man hat das Talent oder man hat es nicht.“ Abschätzend blickte er seinen Wesir an und rief: „Du hast es jedenfalls nicht. Ab mit dir in den Kerker. Dort kannst du über meine Worte nachdenken. Damit du nicht so einsam bist und du deinesgleichen um dich hast, bekommst du ein Kalb als Kerkergenossen.“ Vom ersten Tag seiner Kerkerzeit an übte der Wesir, das Kalb hochzuheben und trug es jeden Tag über die Treppen seines Kerkerturmes. Die Monate vergingen. Aus dem Kalb wurde ein mächtiger Stier und mit jedem Tag der Übung wuchsen die Kräfte des Wesirs. Eines Tages erinnerte sich der Sultan an seinen Gefangenen. Er ließ ihn zu sich holen. Bei seinem Anblick überwältigte ihn das Staunen. „Gott, steh mir bei, welch ein Wunder, welch ein Genie!“ Der Wesir, der mit ausgestreckten Armen den Stier trug, antwortete mit den gleichen Worten wie damals: „Hoheit, kein Meister fällt vom Himmel. Dieses Tier hattest du mir in deiner Gnade mitgegeben. Meine Kraft ist eine Folge meines Fleißes und meiner Übungen.“ Quelle: Nossrat Peseschkian

Schatz des Wissens

Der Traktor eines Bauern lief nicht mehr. Alle Versuche des Bauern und seiner Freunde, das Fahrzeug zu reparieren, misslangen. Schließlich rang sich der Bauer durch, einen Fachmann herbeiholen zu lassen… Der Traktor eines Bauern lief nicht mehr. Alle Versuche des Bauern und seiner Freunde, das Fahrzeug zu reparieren, misslangen. Schließlich rang sich der Bauer durch, einen Fachmann herbeiholen zu lassen. Dieser schaute sich den Traktor an, betätigte den Anlasser, hob die Motorhaube an und beobachtete alles ganz genau. Schließlich nahm er einen Hammer. Mit einem einzigen Hammerschlag an einer bestimmten Stelle des Motors machte er ihn wieder funktionsfähig. Der Motor tuckerte, als wäre er nie kaputt gewesen. Als der Fachmann dem Bauern die Rechnung gab, war dieser erstaunt und ärgerlich: „Was, du willst fünfzig Tuman, wo du nur einen Hammerschlag getan hast!“. „Lieber Freund“, sagte da der Fachmann. „Für den Hammerschlag berechnete ich nur einen Tuman. Neunundvierzig Tuman aber muss ich für mein Wissen verlangen, wo dieser Schlag zu erfolgen hatte.“ Quelle: Peseschkian, Nossrat: Der Kaufmann und der Papagei 1979